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Die Überweisung
Hafiz muss zum Facharzt, okay ich gehe mit, und er soll von seinem Hausarzt rechtzeitig eine Überweisung holen.
Aber Hafiz hat die Überweisung noch immer nicht geholt. Ich verliere die Geduld und schicke ihm eine entnervte Nachricht. Es folgt ein beidseits ärgerlicher WhatsApp-Wechsel. Diesmal werde ich richtig sauer. Schluss mit lustig, er soll am nächsten Tag vorbeikommen, basta.
Als Hafiz kommt, begrüße ich ihn kühl. Er gackst, drückt sich kichernd an mir vorbei in die Garderobe, und während er seine Jacke aufhängt, sagt er: Du schlägst mich, oder?
Ich bin entsetzt.
Hafiz, nein! Nicht in Deutschland.
Oh Gott, denkt er das wirklich…?
Bloß weil ich gestern mal die Faxen dicke hatte? Obwohl ich natürlich weiß, dass in seinem Land Eltern und Lehrer schlagen, bin ich zutiefst erschrocken, als mir dieses Thema in dieser Konkretheit entgegentritt.
Dann versuche ich zu verstehen, was abgelaufen ist. Wie so oft muss ich lange insistieren, muss viele für afghanische Ohren sehr unhöfliche und bedrängende Fragen stellen, bis etwas Verstehbares herauskommt. Anscheinend weiß Hafiz selber nicht genau, warum er seit zwei Wochen tagtäglich vergessen hat, die verflixte Überweisung zu holen. Schließlich murmelt er etwas, das mich aufhorchen lässt: Bei diesem Arzt seien überall Frauen.
Wie… überall Frauen?
Fremde Frauen. Wenn er mit denen sprechen müsse, vergesse er alles, was er habe sagen wollen. Er könne nicht gut mit Frauen sprechen.
Überall in Deutschland diese vielen Frauen – jetzt wird er fast ärgerlich – überall: bei der Arbeit, in den Büros, auf der Straße…!
Aber du sprichst doch auch mit mir, Hafiz…
Mich kenne er ja seit 3 Jahren, das sei wie Familie. Aber die fremden…
Und bei der Arbeit? Deine Kolleginnen?
Im Team sei es okay, das sei auch wie Familie, aber die Frauen von den anderen Abteilungen, mit denen spreche er nur Hallo-guten-Tag, mehr nicht.
Oh mein Gott, er stülpt uns unsichtbare Burkas über!
Mir fällt ein Experiment ein, von dem ich einmal las. In einem Aquarium hatte man in der Mitte eine Glaswand eingesetzt. Die Fische merkten schnell, dass sie sich am Glas die Nase anstießen und beschränkten fortan ihre Schwimmrunden auf die ihnen zugewiesene Hälfte. Als man später das Glas wieder herausnahm, hielten sich die Fische weiterhin nur in der einen Hälfte des Aquariums auf.
Und die deutschen Männer? frage ich.
Mit Männern sei es einfach, mit deutschen Männern könne er sprechen.
Ich denke an Nachrichtenbilder aus Afghanistan: Männer. Straßen und Plätze voller Männer, immer nur Männer. Wenn es eine friedliche Straßenszene ist, vielleicht ein paar blaue Säcke dazwischen. Diese hermetische Welt.
Mit welchen Frauen er eigentlich in Afghanistan gesprochen habe, will ich wissen.
Nur mit Mutter, Großmutter und Schwester. Ja, mit der Tante auch.
Aber dann sei Schluss.
Mit der Cousine?
Nein! nicht viel gesprochen!
Cousinen gelten als bevorzugte Heiratskandidatinnen. Würde er mit einer Cousine sprechen, zum Beispiel auf einem Fest, würde der nächstbeste Mann ihn rügen: Ist das deine Schwester?! Ist das deine Mutter?! Warum sprichst du mit ihr?!
Einen Schritt aus dem Bannkreis heraus und sofort bekommt man Ärger.
Ich bin Afghane, setzt er hinzu, in einem Ton, als würde das alles erklären, ich komme von Dorf, immer in Dorf gewesen. Deine Stadt ganz andere Welt.
Gestern hatte ich ihm verärgert geschrieben, dass er ohne Überweisung hier nicht mehr aufzukreuzen brauche. Ich bedanke mich, dass er sie heute mitgebracht hat. Nein, Hafiz, ich kann es dir nicht ersparen.
Einige Afghanen, die er kenne, wollten zurückgehen, sagt er dann. Und ich sage: Ja, das verstehe ich.
Deutsche Köpfe und afghanische Köpfe – nein, das passt nicht wirklich gut zusammen. Das passt zusammen wie die Faust aufs Auge oder wie Yin und Yang. Zwischen diesen beiden Optionen müssen wir wohl immer wieder wählen, du wie ich.
Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Buddha gesagt habe: Wenn du jemanden triffst, der dir ein Ärgernis ist, dann sei ihm dankbar, denn er eröffnet dir Lernchancen. Aber wie viel wollen oder können wir lernen?
Ich fasse für Hafiz zusammen, was ich verstanden habe. Erstens: Ein großes Problem in Deutschland sind für dich die Termine.
Hafiz nickt heftig. Keine Lust immer Termine machen!
Ich sage: Wer keine Termine machen will, kann nicht gut in Deutschland leben. Und zweitens: Das größte Problem sind die Frauen.
Er nickt noch heftiger. Groooßes Problem.
Oh Hafiz, wie willst du je in Deutschland eine Frau finden…
Seine Mutter in Afghanistan werde ihm eine schicken.
Das geht nicht, Hafiz. Das erlauben unsere Gesetze nicht.
Er seufzt. Dann sagt er, dass er eine deutsche Frau heiraten werde. Aber jetzt noch nicht, jetzt ich brauche nicht, ich habe Zeit, ich bin jung.
Ja, Hafiz, du bist jung.