Brigitte Heidebrecht: Fernreise daheim

Von Flüchtlingen, Kulturen, Identitäten und anderen Ungereimtheiten

5. überarbeitete und erweiterte Auflage 2021
234 Seiten, Paperback, 15,- €
ISBN 978-3-9821383-2-9

Über das Buch
Seit 2015 engagiert sich die Autorin ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit. Seither schreibt sie Geschichten über interkulturelles Verstehen. Mit Empathie und Humor beleuchtet sie das Ankommen von Geflüchteten in unserer Gesellschaft – und gleichzeitig ihren eigenen Lernprozess. Geschichten, die unter die Haut gehen, Selbstverständliches in Frage stellen, Existenzielles ins Licht rücken – globale Herausforderung, gespiegelt im Alltäglichen. Konkret und lebendig vermittelt das Buch interkulturelle Aha-Erlebnisse. Ein vielschichtiger Beitrag zu der Frage: Wie schaffen wir das?


Die Autorin
Brigitte Heidebrecht publizierte in den 1980er Jahren in dem von ihr gegründeten Verlag Kleine Schritte Lyrik und Prosa und gab Anthologien heraus. Zwischen ihren Büchern Lebenszeichen (1980) und Paarweise (1995) lagen 15 Jahre schriftstellerischer und verlegerischer Aktivität. In den folgenden 20 Jahren beschäftigte sie sich lieber mit anderen Dingen. Seit 2015, dem Jahr der sog. Flüchtlingskrise, schreibt sie wieder. Sie lebt als Tanzpädagogin und Beraterin (Mediatorin, Supervisorin und Coach) in Ludwigsburg. (www.brigitteheidebrecht.de, www.folklore-querbeet.de)


> Audio: Brigitte Heidebrecht liest

> Video: Lesung mit Live-Musik

Die Überweisung

Hafiz muss zum Facharzt, okay ich gehe mit, und er soll von seinem Hausarzt rechtzeitig eine Überweisung holen.

Aber Hafiz hat die Überweisung noch immer nicht geholt. Ich verliere die Geduld und schicke ihm eine entnervte Nachricht. Es folgt ein beidseits ärgerlicher WhatsApp-Wechsel. Diesmal werde ich richtig sauer. Schluss mit lustig, er soll am nächsten Tag vorbeikommen, basta.

Als Hafiz kommt, begrüße ich ihn kühl. Er gackst, drückt sich kichernd an mir vorbei in die Garderobe, und während er seine Jacke aufhängt, sagt er: Du schlägst mich, oder?

Ich bin entsetzt.
Hafiz, nein! Nicht in Deutschland.
Oh Gott, denkt er das wirklich…?
Bloß weil ich gestern mal die Faxen dicke hatte? Obwohl ich natürlich weiß, dass in seinem Land Eltern und Lehrer schlagen, bin ich zutiefst erschrocken, als mir dieses Thema in dieser Konkretheit entgegentritt.

Dann versuche ich zu verstehen, was abgelaufen ist. Wie so oft muss ich lange insistieren, muss viele für afghanische Ohren sehr unhöfliche und bedrängende Fragen stellen, bis etwas Verstehbares herauskommt. Anscheinend weiß Hafiz selber nicht genau, warum er seit zwei Wochen tagtäglich vergessen hat, die verflixte Überweisung zu holen. Schließlich murmelt er etwas, das mich aufhorchen lässt: Bei diesem Arzt seien überall Frauen.
Wie… überall Frauen?
Fremde Frauen. Wenn er mit denen sprechen müsse, vergesse er alles, was er habe sagen wollen. Er könne nicht gut mit Frauen sprechen.
Überall in Deutschland diese vielen Frauen – jetzt wird er fast ärgerlich – überall: bei der Arbeit, in den Büros, auf der Straße…!
Aber du sprichst doch auch mit mir, Hafiz…
Mich kenne er ja seit 3 Jahren, das sei wie Familie. Aber die fremden…
Und bei der Arbeit? Deine Kolleginnen?
Im Team sei es okay, das sei auch wie Familie, aber die Frauen von den anderen Abteilungen, mit denen spreche er nur Hallo-guten-Tag, mehr nicht.

Oh mein Gott, er stülpt uns unsichtbare Burkas über!

Mir fällt ein Experiment ein, von dem ich einmal las. In einem Aquarium hatte man in der Mitte eine Glaswand eingesetzt. Die Fische merkten schnell, dass sie sich am Glas die Nase anstießen und beschränkten fortan ihre Schwimmrunden auf die ihnen zugewiesene Hälfte. Als man später das Glas wieder herausnahm, hielten sich die Fische weiterhin nur in der einen Hälfte des Aquariums auf.

Und die deutschen Männer? frage ich.
Mit Männern sei es einfach, mit deutschen Männern könne er sprechen.

Ich denke an Nachrichtenbilder aus Afghanistan: Männer. Straßen und Plätze voller Männer, immer nur Männer. Wenn es eine friedliche Straßenszene ist, vielleicht ein paar blaue Säcke dazwischen. Diese hermetische Welt.

Mit welchen Frauen er eigentlich in Afghanistan gesprochen habe, will ich wissen.
Nur mit Mutter, Großmutter und Schwester. Ja, mit der Tante auch.
Aber dann sei Schluss.
Mit der Cousine?
Nein! nicht viel gesprochen!
Cousinen gelten als bevorzugte Heiratskandidatinnen. Würde er mit einer Cousine sprechen, zum Beispiel auf einem Fest, würde der nächstbeste Mann ihn rügen: Ist das deine Schwester?! Ist das deine Mutter?! Warum sprichst du mit ihr?!
Einen Schritt aus dem Bannkreis heraus und sofort bekommt man Ärger.
Ich bin Afghane, setzt er hinzu, in einem Ton, als würde das alles erklären, ich komme von Dorf, immer in Dorf gewesen. Deine Stadt ganz andere Welt.

Gestern hatte ich ihm verärgert geschrieben, dass er ohne Überweisung hier nicht mehr aufzukreuzen brauche. Ich bedanke mich, dass er sie heute mitgebracht hat. Nein, Hafiz, ich kann es dir nicht ersparen.

Einige Afghanen, die er kenne, wollten zurückgehen, sagt er dann. Und ich sage: Ja, das verstehe ich.
Deutsche Köpfe und afghanische Köpfe – nein, das passt nicht wirklich gut zusammen. Das passt zusammen wie die Faust aufs Auge oder wie Yin und Yang. Zwischen diesen beiden Optionen müssen wir wohl immer wieder wählen, du wie ich.

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Buddha gesagt habe: Wenn du jemanden triffst, der dir ein Ärgernis ist, dann sei ihm dankbar, denn er eröffnet dir Lernchancen. Aber wie viel wollen oder können wir lernen?

Ich fasse für Hafiz zusammen, was ich verstanden habe. Erstens: Ein großes Problem in Deutschland sind für dich die Termine.
Hafiz nickt heftig. Keine Lust immer Termine machen!
Ich sage: Wer keine Termine machen will, kann nicht gut in Deutschland leben. Und zweitens: Das größte Problem sind die Frauen.
Er nickt noch heftiger. Groooßes Problem.
Oh Hafiz, wie willst du je in Deutschland eine Frau finden…
Seine Mutter in Afghanistan werde ihm eine schicken.
Das geht nicht, Hafiz. Das erlauben unsere Gesetze nicht.
Er seufzt. Dann sagt er, dass er eine deutsche Frau heiraten werde. Aber jetzt noch nicht, jetzt ich brauche nicht, ich habe Zeit, ich bin jung.

Ja, Hafiz, du bist jung.

1. Medienstimmen

> Buchtipp SWR 4

> Stuttgarter Zeitung, Interview

> Fachzeitschrift Spektrum der Mediation, Buchtipp

> Badische Zeitung, Interview

> Ludwigsburger Kreiszeitung, Artikel zu Lesung

2. Leser*innenstimmen

Ihre Geschichten helfen mir, meine Kästchen im Kopf zu entrümpeln. (Klara Geilenkirchen, Bonn)

Spannender als ein Krimi und sehr erhellend. (Maria Ohmer, Stuttgart)

Ich habe Tränen gelacht und war sehr berührt und das so schnell hintereinander. (Katharina Thoms, Journalistin, Deutschlandfunk)

So schön. So wahr. Und manchmal so tupfengenau auf den Punkt gebracht, dass mir schier gar die Tränen kommen. (Marie-Luise Baumhauer, Potsdam)

Der Stil gefällt mir und dass ich so viele Informationen bekomme, von denen ich keine Ahnung hatte. (Marte Schorr, Ludwigsburg)

Im Gegensatz zu Ihnen habe ich die Flüchtlinge nie so nah an mich heran gelassen. (Jürgen Niebele, Heidelberg)

Besonders hat mir gefallen, dass Sie nichts beschönigen: der Umgang mit gänzlich anderen Denk- und Verhaltensmustern ist anstrengend und fordert heraus. (Sibylle Schaber, Karlsruhe)

Als Rechtsanwältin mit einem großen Kreis von afghanischen Mandanten habe ich mich in vielen Ihrer Themen wiedergefunden, für manche Fragestellungen habe ich durch Sie erst die richtigen Formulierungen entdeckt. Sie schreiben das so schön schnörkellos, prägnant und kurz, dass ich manchmal meinen Mandanten Episoden daraus kurz vortrage, um ihnen zu erklären, was ich gerade meine. (Juliane Scheer, München)

Sie beobachten und beschreiben genau, ehrlich, selbstkritisch und humorvoll und das immer mit einem ausgewogenen Blick für beide Seiten. Ihr Buch sollte eigentlich Pflichtlektüre für alle KollegInnen in der Abteilung werden. (Eine MitarbeiterIn des Bundesinnenministeriums)

Das Lesen Ihres Buches hat auch mich, die professionell in der Geflüchtetenarbeit tätig ist, an vielen Stellen herzlich lachen und auch nachdenklich werden lassen. (Ina Stiebitz, Beratungsfachdienst für Migrant*innen)

Danke, dass sie in diesem Buch ein so deutliches Ja zu jedem einzelnen Menschen sprechen – zu den Geflüchteten und zu sich selbst. (Sr. Sandra Friedrich, Eucharistinerinnen)

Ich habe mich über die pünktliche Lieferung gefreut und noch mehr über die interessante und flott geschriebene Lektüre. Sie ist m. E. für alle Generationen und Horizonte gut lesbar. (Marlene Flohrer, Mülheim/Ruhr)

Einmal angefangen, hat mich das Buch gefesselt und nicht mehr losgelassen. Ich staune, was sich da vor meiner Haustür abspielt und mir bisher weitgehend verborgen blieb. (Ute Liepold, Bruchsal)

Bitte senden Sie mir nochmals 5 Exemplare Ihres Buches zu! (Dorothee Hetzer, Ditzingen)

Wie soll ich sagen – ich bin ganz eingenommen von deinem feinen Buch. Berührt, geweckt, inspiriert und noch viel mehr. Die feine Sprache, die du gefunden hast. Die eigene Haltung, die du zur Verfügung stellst. Das Infragestellen und Hinterfragen – all das hat mich innerlich in Bewegung gebracht. (Solveig Hornung, München)

Wunderbar auch zum Vorlesen geeignet. (Lisa Hinrichsen, Berlin)