Alles beginnt mit der Sehnsucht.
Nelly Sachs (1891-1970)
Bewusst leben
Wie viele Jahre wir nicht miteinander telefoniert haben, weiß ich nicht. Und doch sind wir uns vertraut. Wir sprechen miteinander, als hätten wir uns erst gestern gesehen. Khalil nennt Namen von damals: Norbert, Bernd, Sven.
Die fast Gleichaltrigen, die ihm in Schwanewede freundschaftlich begegneten, fallen ihm sofort ein. Dann folgt seine Trauer: „Jeden Tag wird es schlimmer. Tag für Tag haben wir gehofft, in unser Land zurückzukehren. Bis heute hat Afghanistan keine Ruhe gefunden. Die Menschen leiden.“
Khalil kenne ich seit Beginn des Jahres 1981. Er und drei weitere Männer waren 1979 geflohen, als die sowjetische Armee in ihr Land einmarschierte. Wir trafen sie in Schlichtbauten am Ortsrand. Dort wohnten auch zwei Bengalen und einige junge Männer aus Ghana, Indien, Sri Lanka, Somalia und Pakistan.
Die Wohnverhältnisse ließen mir keine Ruhe. Alleine wollte ich die bedrückende Last nicht tragen. Wenige Tage später gingen mein Mann und ich zusammen mit weiteren Interessierten zu den jungen Männern und luden sie zu einer Tasse Tee ins ev. Gemeindehaus ein. Diese erste internationale Teerunde war der Beginn unserer Ökumenische Initiative für Flüchtlinge.
Die Begegnung mit Khalil hat mich besonders geprägt, obwohl er nur etwas mehr als drei Jahre in Schwanewede wohnte. Dann zog er in die Nähe seines Bruders nach Süddeutschland. Im Laufe der Jahre gründete er eine Familie, eröffnete ein Geschäft und kaufte ein Haus. Ich besuchte ihn in seinem Geschäft in Konstanz. Perlen über Perlen, Lapislazuli aus Afghanistan, orientalische Stoffe und Lampen, eine Atmosphäre aus 1001 Nacht.
Von morgens bis abends arbeitet er dort. In seiner wenigen Freizeit kümmert er sich um seine Familie. Als ich ihn anrief, spielte er mit seinen beiden Töchtern. Samstags kommt seine Familie manchmal mit ins Geschäft. Dann erleben sie dort einen Familientag. Seine beiden Söhne sind bereits Anfang 20, so alt wie er damals, als ich ihn als 30-Jährige kennenlernte. Er erinnert sich an die erste große gemeinsame Feier der Ökumenischen Initiative im Gemeindehaus und dass wir gemeinsam mit dem Fahrrad zur 15 km entfernt gelegenen Kreisstadt Osterholz-Scharmbeck gefahren sind. Er und seine Freunde stellten sich dort in der berufsbildenden Schule vor. Sie wurden tatsächlich in eine Klasse für Metallverarbeitung aufgenommen. Die Namen von zwei Lehrern fallen ihm sofort ein, die ihm sehr halfen. Doch nach sechs Monaten war die Hoffnung auf Weiterlernen und auf eine Ausbildung vorbei, weil dies für sie als Asylsuchende gesetzlich nicht vorgesehen war.
Khalil wird nie vergessen, dass einem der Lehrer die Tränen in den Augen standen, als er ihnen das mitteilen musste. Er vergisst auch nicht, dass sein Lehrer sagte: „Ich schäme mich, dass in Deutschland so etwas passiert, obwohl wir so viele Bildungsmöglichkeiten haben.“
Für die jungen Männer bedeutete diese Absage eine weitere Zerstörung ihrer Hoffnung auf ein „normales“ Leben. „Wir wollten unsere Zeit nutzen, nicht einfach Karten spielen und fernsehen“, sagt Khalil.
Ich frage ihn nach seiner besten Erinnerung in Schwanewede. Er überrascht mich mit seiner Antwort. „Das waren die Altpapiersammlungen. Dass es so etwas in diesem kleinen Ort gibt, hat mir Kraft gegeben. Ich war perspektivlos und sensibel, und hierkonnte ich etwas tun. Wir haben mit dem Erlös Augenkranken in Bangladesh geholfen. Das hat Sinn gemacht und ich konnte im Leben daran festhalten.“
Khalil ist dankbar, dass er als Selbständiger für seinen Lebensunterhaltaufkommen kann und mit seiner Familie in Sicherheit lebt. Doch er spürt Sehnsucht. „Ich sollte mehr geben für die Welt. Im Leben sind wir fähig, viel Gutes zu tun.“„Auch die Natur gibt“, sagt er. „Ein Baum wächst, hat tolle Blätter, die Sauerstoff produzieren, er bietet Tieren ein Zuhause und schenkt Früchte.“ Vielleicht ist es diese Sehnsucht, die mich von innen mit ihm verbindet. „Mein Leben empfinde ich wie eine Wartezeit, wie ein Wartezimmer“, fügt er nachdenklich hinzu. „Wie schön wäre es, wenn alle auf der Welt vernünftig und bewusst leben würden. Es ist fast unmöglich.“ Khalil wartet auf Frieden. Durch sein Dasein, durch sein zutiefst menschliches Fühlen und Denken, hat er meinem Leben entscheidende Anstöße gegeben. Dankbar beenden wir das Telefongespräch. Ich bin froh, dass es ihn gibt. Er gehört zu meinem Leben.